“Pflanzwut” (an antinatalist poem)

Das Leben ist ein feines Ding:
Der Mensch, der Fisch, der Schmetterling –
Getrieben wird ein jedes Tier
Von wunderbarer Lebensgier.

Ich lebe viel, ich lebe gern,
Doch möchte ich mein Glück vermehrn;
Mein Erbgut will verbreitet sein,
Drum zeug ich viele Kinderlein.

Ich pflanz mich weiter, pflanz mich fort,
Pflanz ein Geschöpf an jedem Ort;
Ich pflanz mich fort, ich pflanz mich weit
Und preise meine Fruchtbarkeit.

In meinem Garten wächst ein Werk:
Ein dichtbepflanzter grüner Berg;
Es wird mit reichlich wildem Kraut
Ein Lebensheiligtum erbaut.

Ich schau mich um, ich bin empört!
Was mich an meinem Häuschen stört:
Die weiße Wand ist nicht genug –
Es fehlt ein Schimmelüberzug.

Und hätt ich einen Zauberstab,
Betreten würd ich jedes Grab;
Wer einst vor Kummer sich ertränkt,
Bekommt das Leben neu geschenkt.

Ein Zauber, der lebendig macht:
Zum Leben jeder Stein erwacht;
Und auch der härteste Kristall
Erlebt den eigenen Zerfall.

Ich bin ein Mann, der Leben schafft,
Ich strotze voller Lebenskraft;
Bin stolz auf meine Zeugungswut –
Sie tut der ganzen Erde gut.

Doch werd ich einmal alt und krank –
Ich fülle eine Samenbank;
Der Same, der zu Boden fällt,
Befruchtet noch die ganze Welt.

Denn ferne Sterne, Mars und Mond –
Sie sind so schrecklich unbewohnt!
Die Raumfahrt gibt mir Zuversicht,
Dass bald die letzte Schranke bricht.

Das Leben auf dem Mars gedeiht,
Der Mann im Mond wird Wirklichkeit;
So wird der Weltengang gebeugt,
Das Weltenglück herbeigezeugt.

Stößt Gott mich von der Himmelsleiter,
Ich pflanz mich in der Hölle weiter!

u/LennyKing, Februar 2023


Ein paar Stichpunkte zum Hintergrund des Gedichts:

  • Auf die Idee bin ich über die Vorstellung der so genannten gerichteten Panspermie gekommen: “Es gibt erste Überlegungen, wie gerichtete Panspermie Leben auf Exoplaneten fördern könnte.”
  • Ein solches Unterfangen muss Symptom menschlicher Hybris – Humanomanie – und größenwahnsinniger Lebensbejahung sein. Und kaum jemand versteht es so gut, solche Psychopathie künstlerisch darzustellen wie Till Lindemann und Rammstein. Gerade durch die gewählte Überidentifikation mit dem oft psychisch gestörten Tätersubjekt in der ersten Person gelingt ihm eine eindrucksvolle Darbietung menschlicher Abgründe – und zuweilen deren ironische Ridikülisierung. Somit standen für mich gleich poetische Form, Stil und Register von Anfang an fest – und natürlich auch die Prosodie, die den Effekt verstärken soll. Eine musikalische Interpretation müsste also idealerweise in einem solchen Rahmen stattfinden.
  • Der Titel “Pflanzwut” ist nicht nur eine Anspielung auf die menschliche Phytomanie, sondern auch auf die Band Tanzwut, die sich teilweise in einem ähnlichen Musikstil bewegt.
  • Die “Lebensgier” der ersten Strophe bezieht sich – neben dem allgegenwärtigen, blindwütigen “Willen zum Leben” – auf ebendiese den Menschen evolutionär tief eingepflanzte und ideologisch an allen Ecken und Enden bekräftige Lebenssucht, die die Menschen bisweilen wie Drogenjunkies wirken lässt…
  • “Ich lebe viel, ich lebe gern” ist eng angelehnt an den Vers “Ich reise viel, ich reise gern” aus Rammsteins Ausländer (2019). Manche Menschen wollen nicht nur so viel leben wie möglich, sondern auch so viel Leben wie möglich. Ursprünglich hatte ich vor, in dieser Strophe auch den Rammstein-Vers “Und bist du manchmal auch allein / Ich pflanze dir ein Schwesterlein” zu verwerten, der in Wiener Blut (2009) Josef Fritzl in den Mund gelegt wird.
  • “Sobald etwas belebt ist, ist es auch schön.” Dieser seltsamen ästhethischen Anschauung versucht das Gedicht Ausdruck zu verleihen. Vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag zu meiner Auffassung des Begriffs “Lebensekel” verfasst, auf die ich mich auch hier beziehe. Es handelt sich hier nämlich nur vordergründig um einen Lobpreis des Lebens: Ähnlich wie Rammstein in ihrem Lied Sex (2019) dem Geschlechtsakt jeglichen erotischen Reiz nehmen, dürfte einem auch hier der Lebensappetit vergehen.
  • Wenn der Belebtheitszustand einer Sache deren Wert um ein Vielfaches steigert, dann wäre es nur konsequent, einer von Schimmel befallenen Wand gegenüber einer sterilen den Vorzug zu geben. Selbstverständlich ist der Ausdruck “Schimmelüberzug” angeleht an Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 1 [ZA Bd. III, S. 9]: “Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwan ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat: – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt.”
  • Klar von Schopenhauer inspiriert ist auch die Strophe “Und hätt ich einen Zauberstab, / Betreten würd ich jedes Grab; / Wer einst vor Kummer sich ertränkt, / Bekommt das Leben neu geschenkt.” So heißt in in Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kapitel 41 [ZA Bd. IV, S. 545] bekanntlich: “Klopfte man an die Gräber und fragte die Todten, ob sie wieder aufstehn wollten; sie würden mit den Köpfen schütteln.” Besonders schlimm finde ich es – mit Martin Neuffer –, wenn Menschen, denen das Leben offensichtlich eine unerträgliche Zumutung geworden ist, gegen ihren ausdrücklichen Willen in Heldenarzt-Manier wieder ins Leben geholt werden.
  • Die völlig unsinnige Belebung des Mineralischen ist von einem Gedankenexperiment David Benatars inspiriert.
  • Dem darwinistischen Genkult – getreu dem Motto “An meinen Genen soll die Welt genesen” – und den damit verbundenen Unsterblichkeitsfantasien wird in der folgenden Strophe gehuldigt, ebenso wie dem Irrglauben des Menschen, der Planet würde von seiner Anwesenheit irgendwie profitieren.
  • “Der Same, der zu Boden fällt” ist eine Referenz auf den biblischen Onan in der Genesis, 38, 9: “Aber da Onan wusste, dass die Kinder nicht sein Eigen sein sollten, ließ er’s auf die Erde fallen und verderben, wenn er einging zu seines Bruders Frau, auf dass er seinem Bruder nicht Nachkommen schaffe.” (Lutherbibel 2017) Tatsächlich hofft ein Samenspender darauf, sich mittels der Onanie fortzupflanzen. (Was es mit der Onan-Stelle eigentlich auf sich hat, erläutert David Daube ja in The Duty of Procreation.)
  • “Denn ferne Sterne, Mars und Mond – / Sie sind so schrecklich unbewohnt!” ist eine Ironisierung der Zapffeschen Weisheit “For mig er en ubebodd ø ingen ulykke, heller ikke en klode, som er fri for livets febrile fungus, f.eks. månen.” (Jeg velger sannheten – en dialog mellom Peter Wessel Zapffe og Herman Tønnessen, Oslo: Universitetsforlaget 1983, S. 60.)
  • In der letzten Strophe kommt das schließlich das Thema der gerichteten Panspermie zur Sprache. Siehe auch: Colonising the galaxy is hard. Why not send bacteria instead? Zwar ist an solchen Vorhaben schon leise Kritik geäußert worden, aber die Kommentare hier sprechen für sich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis jemand wie Elon Musk in pronatalistischer Megalomanie so etwas tatsächlich in Angriff nimmt. Hierzu hat u/EternisedDragon einen Aufsatz mit dem Titel Ethics on Cosmic Scale, Directed Panspermia, Outer Space Treaty, Technology Assessment, (and Fermi’s Paradox) verfasst.
  • Das Wort “herbeigezeugt” habe ich Karim Akermas Vortrag zum Thema Antinatalismus in jüdischer, christlicher und gnostischer Religion entnommen: “Der Messias wird förmlich herbeigezeugt.”
  • Der Zweizeiler am Schluss gehört nicht mehr zum eigentlichen Gedicht, das ja ausschließlich männliche Kadenzen aufweist, aber ganz herausnehmen wollte ich ihn wegen seiner pointierten Formulierung auch nicht. Wenn ich sehe, dass selbst unter den schlimmsten Lebensumständen Menschen sich nicht von der Fortpflanzung abbringen lassen, denke ich mir: Manche Menschen würden selbst in der Hölle noch Kinder bekommen wollen. Da gibt es auch eine Anekdote von Philipp Mainländer:
    Er streitet, halb scherzend, mit seiner Mutter: »Du willst eine Christin sein und hängst noch mit tausend dicken Seilen an der Welt; an Geld, Besitz, Ansehen u.s.w. Ich erkläre dir aber: alle diese Seile müssen vollständig durchschnitten werden, wenn du deinem Heilande folgen willst. Wer ihm folgen will, darf nicht zurücksehen; er verlangt sogar, dass du deine Kinder nicht mehr liebst als ihn, ja, dass du sie gar nicht mehr liebst.« – »Meine Kinder«, rief sie und ihre Augen funkelten wie die einer angegriffenen Löwin. »Das verlangt Christus nicht, das konnte er nicht verlangen.« »Doch, doch! Das ist ja alles leicht aus seinen Reden zu beweisen, und du weisst es so gut wie ich. Du steckst aber wie der Vogel Strauss den Kopf in den Sand und willst nicht sehen. Du bist eine Heidin, ein Weltkind, eine grosse Sünderin und wirst dereinst in die Hölle kommen.« Und was war die Antwort? »Wenn ich nur dort meine Kinder habe, so werde ich zufrieden sein!« – »Schon damals«, bemerkt Mainländer hierzu, »entstand – jedoch nur als Schaum auf trüber Gedankenflut – die Überzeugung in mir, dass der wilde Instinkt der Mutterliebe in der Menschheit ausgerottet werden müsste, sollte die Erlösung der Menschheit möglich werden. Das »Wie« war aber für mich mit voller Nacht bedeckt.«

originally posted on Reddit [2023-02-07]


(rough) English translation:

Life is a fine thing:
Man, fish, butterfly –
Every animal is driven
By a wonderful desire to live.

I live a lot, I live gladly,
But I want to multiply my happiness;
My genome wants to be spread,
Therefore, I beget many little children.

I propagate myself, I propagate myself onward,
Plant a creature at every place;
I propagate myself, I propagate myself far and wide
And praise my fertility.

In my garden grows a work:
A densely planted green mountain;
With plenty of wild herbs,
A sanctuary of life is built.

I look around, I’m outraged!
What bothers me about my little house:
The white wall is not enough –
It needs a film of mildew.

And if I had a magic wand,
I would enter every grave;
Who once drowned himself in sorrow,
Gets new life as a gift.

A spell that brings to life:
Every stone will come alive;
And even the hardest crystal
Will experience its own decay.

I am a man who creates life,
I am full of vitality;
I’m proud of my procreative mania –
It benefits the whole earth.

But if I once become old and sick –
I’m filling a sperm bank;
The seed that falls to the ground,
Will fertilize the whole world.

Because distant stars, Mars, and the moon –
They are so terribly uninhabited!
Space travel gives me hope
That soon the last barriers will fall.

Life will thrive on Mars,
The man in the moon will become reality;
Thus, the path of the universe is bent,
The happiness of the word brought forth.

If God throws me off Heaven’s ladder,
I’ll propagate myself in hell!


Also check out No Soul No Toll’s musical rendition of my poem.